Uwe Friesel

  Jugendstil

Erhalte über den Computer, als e-Mail, eine Einladung von einem A. S., ihn doch in der Drottninggatan 85 zu besuchen. Er wohne zur Miete. Vierter Stock zwar, aber kein Problem, denn das Haus sei höchst modern, verfüge über fließend warmes und kaltes Wasser und auch über Toiletten mit Wasserspülung und einen elektrischen Aufzug.

Es stimmt: in einem bemerkenswert schönen Treppenhaus mit farbigen Glasfenstern findet sich ein fein geschmiedetes gusseisernes Gehäuse und darin eine Fahrstuhlgondel mit Holzverkleidung, in die schlanke, hohe Kristallspiegel eingelassen sind. Der Treppenaufgang drum herum erinnert mich sogleich an das Haus der Familie von Vladimir Nabokov in St. Petersburg: die gleichen bleigefassten Fenster und eine ähnlich schöne Täfelung, wenn auch nicht ganz so palastartig. Eine Nummer kleiner hier. Bürgerlich eben.

Der Hausherr öffnet persönlich, in einem Morgenmantel aus Mohair, darunter ein geknöpftes Hemd ohne Kragen, das Haar auf interessante Weise zu den Seiten aufwärts gekämmt statt abwärts. Durch einen engen Flur, in dem man eine Art Theaterbild sieht, darunter eine etwas antiquiert wirkende Kühlbox, führt er mich in seine Zimmer, die von weiteren Räumlichkeiten zur Rechten abgetrennt scheinen.

Wie das Haus, so das Mobiliar. Die Tischchen, Schränke, Lampen, Vasen: reiner Jugendstil. In den Lampen Glühfadenbirnen, die ein mattes rötliches Licht werfen, nicht unangenehm, aber für mein Gefühl etwas dunkel, ein Eindruck, der durch Hand gewebte, halb geraffte Vorhänge vor den sehr großen Fenstern noch verstärkt wird. Alles in meinen Farben, sagt der Gastgeber. Gelb, grün, rot. Und zwar kräftig.

Zur Tegnérgatan und zur Drottninggatan hin öffnen sich zwei Balkone, deren kunstvoll geschmiedete Umrandungen ich schon oft von unten im Vorübergehen bewundert habe, wie auch das ganze elegante Haus und seine winklig hervorspringende Ecke mit ihren Ornamenten und Fayencekacheln und einem schön gestalteten Dachhäubchen auf der obersten Spitze, so dass sie wie ein blauer Turm wirkt.

Wohnen Sie hier schon länger? frage ich.

Seit 1908, sagt er. Seit ich es mir leisten kann. Genauer, seit ich allein bin. Ein Neubau. Sehen Sie: alles elektrisch! Stolz weist er auf die Wandleuchter und die große, herab ziehbare Lampe über dem Esstisch. Die elektrischen Drähte sind getrennt nach Plus und Minus auf winzigen Porzellanisolatoren an der Wand befestigt.

Warum haben Sie mich eingeladen? will ich wissen.

Sie haben Mitte der sechziger Jahre als Sekretär einer Frau Tabitha von Bonin an der Neuübertragung meines Romans Am offenen Meer mitgewirkt, die ich für sehr geglückt halte – Sie wissen ja, Übersetzungen sind Glückssache, lacht er.

Dunkel erinnere ich mich an diesen Job in meiner Studentenzeit, nur, woher er das wissen kann, ist mir rätselhaft, da es im Impressum des Bandes nicht vermerkt ist. Ich hatte ja nur für die damals sechsundsiebzigjährige Übersetzerin in die Maschine getippt, was sie mir diktierte (denn sie hatte Arthritis und konnte nicht mehr selbst die Schreibmaschine bedienen). Immer mal wieder hatte ich, auf ihre Bitte hin, bestimmte Redewendungen und Dialoge modernisiert. Man kann das in der Suhrkamp Ausgabe dieses Romans finden, aber nicht belegen, dass es von mir ist.

Ist das nicht Goethe, sage ich, um Zeit zu gewinnen, auf eine etwas abgegriffene Gipsbüste weisend. Ganz recht, sagt er, und der andere ist Schiller. Und dann noch Beethoven, über dem Klavier. Es stammt übrigens aus Berlin.

Und die Bilder an der Wand?

Sie meinen die Ölbilder? Die sind echt. Nämlich von mir.

Malen Sie denn auch?

Ich habe es wieder aufgegeben, sagt er und hat plötzlich eine steile Falte über der Nasenwurzel. Genau wie das Goldmachen. Und das Fotografieren. Wissen Sie, man muss psychologisch fotografieren, genau wie man auch psychologisch malen muss. Und schreiben, natürlich. Alles, was wir ausdrücken und was uns antreibt, läuft letzten Endes auf unser Inneres hinaus: ein intimes kleines Theater, das wir im Kopf mit uns herumtragen.

Goldmachen? Wie Wagner im "Faust"?

Richtig. Wie Goethe. Als naturwissenschaftlicher Mensch muss man dem Positivismus rechtzeitig Paroli bieten.

Jetzt kommen wir in sein Büro, an einen überraschend kleinen, überraschend aufgeräumten Schreibtisch. Es gibt nur wenige Bücher, aber Meyers Konversationslexikon, das (fällt mir unvermittelt ein) auch Nabokov schätzte wegen seiner akkuraten Stahlstiche von Schmetterlingen, steht dort in ungefähr dreißig Bänden.

Er merkt meinen Blick und lacht wieder. Ja, ihr Deutschen, sagt er, Lexika könnt ihr machen und Bier, und eure Soldaten sind enorm dick und groß. Er verstummt, überlegt einen Augenblick, und fügt hinzu: Aber Berlin ist schon aufregend, als Stadt.

Das sagt mir hier jeder, sage ich. Dabei ist Stockholm ––

Stockholm? Stockholm ist eine Philisterstadt, ein bigottes Nest. Wenn ich nicht ein eigenes Theater endlich hätte, meine Stücke würden hier jedenfalls nicht aufgeführt. Wissen Sie, dass man mich wegen der Redeweise meiner Bühnenfiguren vor Gericht zitiert hat? Wegen Erregung öffentlichen Ärgernisses? – Doch, falls Sie danach suchen: ich habe noch ein paar Tausend Bücher mehr, zwei Stockwerk höher, in meiner Bibliothek. Sehen Sie die beiden Telefone dort? Eins führt in die Bibliothek, das andere in die Welt. Zwei wichtige Anschlüsse.

Ich habe auch keine Küche gesehen, sage ich.

Nach drei Ehen hat man Küchen und Kannen, Tassen und Teller satt. Über mir gibt es mir die Pension Falkner, da rufe ich an, und man bringt mir Essen, oder ich gehe hinunter in die Gastwirtschaft.

Praktisch, sage ich (und fühle mich schon wieder an Nabokov erinnert, wie er in seinem Hotel in Montreux die Laufburschen, nach denen er häufig klingelt, durch genau bemessene Trinkgelder bei Laune hält).

Doch irgendwie ist alles etwas befremdlich, zwar gut in Schuss, aber genau betrachtet fast museal, und ich beschließe, dem Hausherrn eine entsprechende Frage zu stellen. Doch der verschwindet gerade hinter einer kleinen Tür im Vorraum. Dann ist es still. Vergeblich warte ich auf das Geräusch der Spülung, die er doch in seiner Mail eigens erwähnt hat. Ich poche an der Tür: kein Laut. Oder ist es die Tür daneben, die genau so aussieht? Ich öffne sie und stehe unvermittelt in einem Foyer mit einem Tresen. Dahinter eine junge Frau, hübsch, lächelnd und skandinavisch blond. Zu jung, denke ich, und: Hat er nicht gesagt, er sei geschieden?

Ich starre sie an. Sie lacht. Ist was? fragt sie auf Schwedisch.

Erst jetzt wird mir deutlich, dass ich mich mit dem Gastgeber die ganze Zeit auf Deutsch unterhalten habe. Doch ihr antworte ich lieber auf Englisch, wie in Stockholm sonst üblich. Jüngere Leute verstehen meist kein Deutsch.

Wo ist der Hausherr abgeblieben? frage ich. The host? The landlord?

Sie sieht mich etwas schräg an, als zweifle sie an dem, was ich gerade gefragt habe. Ich bin per e-Mail hierher eingeladen worden, sage ich, von dem Hausherrn, der offenbar Schriftsteller ist.

Wohnt er hier schon länger? fragt sie, mit einem belustigten Lächeln um den Mund, das mir nicht ganz geheuer ist. Seit 1908, will ich gerade sagen, da geht mir auf, dass er dann ja über hundert Jahre alt sein müsste, und ich verstumme. Warum habe ich das nicht gleich gemerkt? Als er selbst diese Auskunft gab?

Offenbar bin ich dabei, mich lächerlich zu machen. Sie blickt an mir hinunter, mustert mich von oben bis unten, und ihr Blick bleibt an meinen Schuhen haften.

Sie haben keine Fußbodenschoner übergestreift?

Fußbodenschoner?

Ja, dort in dem Wäschekorb, neben der Tür. Hier im Museum können Sie zwar so rumlaufen, aber in seinen Privaträumen nicht. Denn dort liegen die originalen Teppiche, und wir haben auch den Fußboden nicht versiegelt.

Wäschekorb? Ich habe keinen Wäschekorb – ich kenne diese Tür überhaupt nicht. Ich war noch nicht in diesem Raum hier.

Aber Sie haben die Wohnung gesehen? fragt sie, plötzlich sehr ernst, und steht auf. Sie nimmt einen Schlüssel aus einem Schubfach und geht an mir vorbei zur Tür, die in das Treppenhaus führt. Sie versucht, eine Tür rechter Hand direkt gegenüber dem Jugendstilfahrstuhl zu öffnen. Sie muss zwei Mal umschließen.

Sie kommt zurück und mustert mich. Wortlos. Nach einem Moment sage ich: Er ist hinter einer Tür verschwunden, und ich dachte, es war die Toilette. Es muss ja aber wohl die Tür hinter mir gewesen sein, die in dieses Foyer führt. Und Sie müssen ihn auch bemerkt haben. Es sei denn, er ist eben doch ins WC…

Unsinn! sagt sie knapp. Das WC ist mit Plexiglas versperrt, damit es keiner benutzt. Wie auch sein Arbeitszimmer. Damit sich da keiner hinsetzt oder die teuren englischen Federn und die französischen Tintenfässer klaut.

Sein Arbeitszimmer ist mit Plexiglas versperrt?                                                

Doch die Frage bleibt mir zum Glück im Hals stecken: denn herein stürmt Jan Myrdal an der Spitze eines Trupps von Chinesen. Ah, Friesel, Sie auch hier? sagt er strahlend mit seiner sonoren Stimme, auf Deutsch. Die hübsche Kustodin blickt von ihm zu mir und wieder zu ihm. Er will wohl auch mal auf dem berühmten Balkon gestanden haben, sagt er zu ihr, auf Schwedisch.

Sind Sie etwa auch auf dem Balkon gewesen? fragt sie mich irritiert, auf Englisch.

Die Chinesen, die sehr aufmerksam um uns herumstehen, fangen an zu lachen. Dlei Splak gleich Zeit, sagt einer von ihnen.

Ich führe jetzt meine freundlichen Studiengäste aus Asien durch dieses abendländische Debakel. Er hat ja nie den Nobelpreis bekommen, wie meine beiden Eltern. Das muss man sich einmal vorstellen!

Richtig, beide Eltern von Myrdal haben den Nobelpreis bekommen: seine Mutter für den Frieden, sein Vater für die Ökonomie.

Dafür aber den Anti-Nobelpreis, den die einfachen Leute für ihn gesammelt haben, sagt die junge Frau. Ihre Aufmerksamkeit wird nun zum Glück von Jan Myrdals Chinesen in Anspruch genommen.

Damit wäre mir auch wohler gewesen, als Kind, sagt Myrdal unbestimmt. Und was mich betrifft, in diesem Leben wohl kaum noch, schon gar nicht mit Print on Demand Technik. Und an mich gewandt, fast aggressiv: Die propagieren Sie doch, oder?

Sie doch auch? gebe ich zurück. Sie sind doch geradezu ihr Urheber!

Kaum noch, kaum noch, wiederholt er. Möchten Sie meine Führung mitmachen? Allerdings auf Schwedisch.

Nein nein, sage ich. Bin schon herumgeführt worden. Und werde den Verdacht nicht los, dass womöglich Myrdal, der in seinem Mohairmantel dem Hausherrn immer ähnlicher sieht, diese private Führung gemacht hat. Kennt er nicht meine e-Mail-Adresse? Ja, natürlich! Seit der Schwarzmeer-Kreuzfahrt der Schriftsteller kennt er meine e-Mail-Adresse! Einen Jux will er sich machen! Doch als ich ihn zu Rede stellen will, ist er schon mit den Chinesen, die sich inzwischen sämtlich Fußbodenschoner über die Winterschuhe gestreift haben, in den seitlichen Wohnräumen verschwunden.

Bericht aus einem chinesischen Dorf. Reines Traumspiel.

Wollen Sie nicht wenigstens unser Stockholmpanorama noch sehen, hier im Hauptteil? Die Celestographien? Die psychologischen Porträts? Berns Restaurant? Die Wolkenbilder? Die Zeittafel? Sie können auch ein T-Shirt kaufen, mit der ersten Seite aus dem Roten Zimmer als Aufdruck. Seine eigene Handschrift.

Nein danke, murmele ich vage. Was schulde ich Ihnen? und habe auch schon die Jacke übergestreift.

Gar nichts, sagt sie. Wo er Sie doch persönlich per e-Mail eingeladen hat...

Ich finde diesen Hohn unerträglich, kann aber den Beweis hier und jetzt nicht antreten, verabschiede mich mit einem knappen Tack! und Hej då! und höre noch hinter der Tür, während ich auf den Jugenstil-Fahrstuhl warte, ihr blondes Lachen.

Stockholm 2004, © Zeichnung André Prah

 

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