Uwe Friesel

  Reden & Essays

Nachdenken über Frieden

Komm! Ins Offene, Freund!

 

Nachdenken über Frieden

Es gibt ein historisches Foto, anlässlich der Bekanntgabe des Marshall-Plans zum Wiederaufbau Europas nach den Verheerungen des zweiten Weltkriegs aufgenommen, darauf sieht man etliche Herren in dunklen Anzügen nebeneinander auf einer Treppe stehen und applaudieren. In der ersten Reihe stehen der Dichter T. S. Eliot, der Atomwissenschaftler J. Robert Oppenheimer, der US-Außenminister George C. Marshall und der General Omar Bradley. Letzterer trägt Uniform.

Vielleicht wundert es den Leser, wenn ich meine Marginalien zum just mit den Worten eines (1981 verstorbenen) Generals eröffne. Doch seine beiden Sätze sind heute so aktuell wie damals: "Unsere Welt ist eine Welt atomarer Riesen mit einer in den Kinderschuhen steckenden Ethik", lautet der eine, der andere: "Wir wissen mehr über den Krieg als über den Frieden, mehr über das Töten als über das Leben." Das hat philosophische Dimensionen, wie man sie kaum noch von Politikern erwartet, geschweige denn von Militärs.

Das Foto ist auch deshalb aufschlussreich, weil die vier Männer vier Berufe repräsentieren, die sich sozusagen von Amts wegen mit Fragen des Friedens befassen sollten: ein General, der tatsächlich für sich in Anspruch nehmen durfte, er kämpfe für den Frieden; ein Außenminister, der für seine Aufbauarbeit auch im Land des früheren Feindes zu Recht den Friedensnobelpreis bekam; ein Atomwissenschaftler, der mit seiner Beteiligung bei der Entwicklung der Wasserstoffbombe ins Zentrum des Antagonismus Krieg-Frieden geriet und wegen seiner Skrupel vor einen Untersuchungsausschuss zitiert wurde (der deutsche Dramatiker Heiner Kipphardt machte diesen Konflikt dann mit seinem Stück In der Sache J. Robert Oppenheimer zu einem öffentlichen Thema), und schließlich ein gefeierter Dichter und Nobelpreisträger, der aus christlicher Sicht gegen die Weltkatastrophe anschrieb.

Übrigens sind alle vier Amerikaner.

Von Politikern demokratischer Staaten erwartet man, dass sie für den Frieden eintreten. Deshalb war der Angriff auf den Irak mit seinen wechselnden Begründungen auch so schockierend. Doch die wenigsten Politiker sind in ihrem Handeln stets von der Unabdingbarkeit des Friedens motiviert. Nur die Charismatischen unter ihnen finden Worte dafür, die es wert sind, sich ins Gedächtnis der Völker einzuprägen, etwa Indira Gandhi mit dem Satz: "Mit geballter Faust kann man keinen Händedruck austauschen." Oder ihr Namensvater, der Erfinder des gewaltlosen Widerstands, Mahatma (= die große Seele) Gandhi, mit dem Augen öffnenden Halbsatz: "Auge um Auge – bis die ganze Welt blind ist."

Allein diese zwei Sätze stellen weite Bereiche gegenwärtiger Politik als das bloß, was sie sind: armselige Rückgriffe auf Atavismen, bestenfalls auf das nationalistische Vormachtdenken des 19. Jahrhunderts. Schon Willy Brandt bemerkte hierzu: "Nicht der Krieg ist der Vater aller Dinge, sondern der Frieden." Wohl wegen solcher Sätze und entsprechender Taten ist er, neben Gustav Stresemann, der einzige Friedensnobelpreisträger unter deutschen Politikern geblieben.

Um gerecht zu sein: Menschen, die an der Macht sind, haben selten Gelegenheit, deutlich und eindeutig für eine friedliche Politik zu optieren. Meist scheinen die Umstände das Gegenteil zu fordern. Wollen sie trotzdem Frieden stiften, werden sie oft genug von Fanatikern aus den eigenen Reihen umgebracht, wie Gandhi selbst, aber auch der Friedensnobelpreisträger Anwar el Sadat (Ägypten), der schon Ende der siebziger Jahre Frieden mit Israel wollte und dafür von seinen eigenen Offizieren erschossen wurde. Oder umgekehrt der israelische Friedenspreisträger Yitzhak Rabin, den ein ultra-orthodoxer Mitbürger 1995 ermordete, weil er – zusammen mit Jassir Arafat – eine friedliche Lösung in Palästina anstrebte. Jüngstes Beispiel für diesen besonderen Hass auf alle, die friedliche Konfliktlösungen anstreben: die schwedische Außenministerin Anna Lindh. Sie wurde unlängst von einem serbischen Fanatiker erstochen, am helllichten Tage, mitten in Stockholm.

Hass und Frieden sind ein mindestens ebenso relevantes Gegensatzpaar wie Krieg und Frieden. Der im Exil lebende XIV. Dalai Lama, ein weiterer Friedensnobelpreisträger, definiert mit Blick auf diesen Antagonismus den Frieden scheinbar ganz privat: "Die Bewahrung des Friedens beginnt damit, dass der einzelne Mensch friedliebend und zufrieden ist."

Es ist schon fast nicht mehr der (buddhistische) Politiker, der aus diesen Worten spricht, sondern, wie im Fall (des Hindu) Gandhi, der Philosoph. Philosophen und Gläubige haben sich häufig aus Überzeugung zum Prinzip des Friedens bekannt und dafür mit Gefängnis, Folter oder gar dem Leben bezahlt. Christus zum Beispiel.
Was indes im zwanzigsten Jahrhundert von den Nazis an Juden und Kommunisten verbrochen wurde, ist so ungeheuerlich, dass kaum jemand, der darüber schreibt, auch nur von fern angemessene Worte dafür findet. Doch mit dem Untergang des Hitler-Regimes hörte es ja nicht auf! Gedenken wir deshalb zu Anfang des dritten Jahrtausends auch der unzähligen Märtyrer einer aufklärerischen Kirche von unten in Südamerika und Afrika, am Ende des letzten Jahrhunderts bestialisch umgebracht von der Mordmaschinerie der jeweiligen Diktatoren. Vergessen wir nicht die Drangsalierung bekennender Christen und Juden unter kommunistischer Herrschaft. Das zwanzigste Jahrhundert war das mörderischste seit Menschengedenken. Was um aller Himmel willen kann uns glauben machen, das einundzwanzigste würde humaner?

Die Idee des Friedens war und ist gefährlich für den, der sie lebt und in Worte fasst. Illusionslos formulierte der brasilianische Bischof Dom Hélder Câmara: "Als Pilger der Gerechtigkeit und des Friedens müssen wir die Wüste erwarten." Der rote Bischof von Rio wurde zwar nicht ermordet, aber wegen seines furchtlosen Widerstands gegen die Folter und des Aufbaus von Basisgemeinden von der eigenen katholischen Amtskirche aus dem Verkehr gezogen. Fast zwanzig Jahre lang hatte er Sprechverbot.
Was erwartet eine Autorin bzw. einen Autor, wenn sie Friedensgedichte schreiben? Jedenfalls kein Idyll. Friedensgedichte sind keine Schäferlyrik. Sie sind auch keine Antikriegs-Poesie, aus jeweiliger Parteinahme möglichst heroisch formuliert. Sie versuchen etwas viel Einfacheres und zugleich viel Schwierigeres, nämlich neue Worte für die ewige Sehnsucht nach Frieden zu finden. Wo ringsum Unfrieden herrscht, halten sie die Momente des Friedens fest. Sie trauern über die Opfer. Sie beklagen das sinnlose Töten. Aus der Position äußerster Machtlosigkeit und Marginalisierung plädieren sie für das Leben.

Die ständige Schwierigkeit besteht darin, der eigenen Angst und grausamen Erinnerung zu begegnen. Vor allem Exilautoren kommen von bestimmten Albträumen kaum los. Und alle, die Gedichte zum Frieden verfassen, müssen sich darüber klar sein, dass ihnen sogar noch der Hohn der eigenen Kollegen sicher ist. "Durchs Höllentor des Heute und Hienieden / Vertrauend träumt er hin zum ewigen Frieden", reimte zum Beispiel Karl Kraus 1918, nach der Erfahrung des Ersten Weltkriegs. Den Millionen von Opfern der Giftgasorgien und Materialschlachten hat er mit seinem kaum aufführbaren Bühnenepos Die letzten Tage der Menschheit ein Denkmal gesetzt und war darüber zum Zyniker geworden. Wie auch der große Tucholsky, wenn er 1931 in der Weltbühne verbittert feststellt: "Die Gendarmen aller Länder hätten und haben Deserteure niedergeschossen. Sie mordeten also, weil sich einer weigerte, weiterhin zu morden."

Das ist bittere Realität, und wir werden noch erfahren, wie sich die israelische Regierung gegenüber Piloten verhält, die sich weigern, mit ihren Hubschraubern palästinensische Siedlungen anzugreifen. Oder die deutschen, wenn ihre Soldaten in Afghanistan nicht schießen wollen.

Doch macht es sich Karl Kraus allzu leicht bei dem Versuch, mit seinem spöttischen Couplet Immanuel Kants bewundernswerten Aufsatz Zum ewigen Frieden. Ein philosophischer Entwurf zu widerlegen. Der Denker Kant träumt nicht, er denkt, zumindest im "Ewigen Frieden". Auch ist ihm Ironie keineswegs fremd. Den Titel zum Beispiel hat er von einem Königsberger Wirtshausschild abgelesen, auf dem der benachbarte Friedhof abgebildet war. Doch genau dieser Gegensatz – zwischen der erzwungenen Friedhofsruhe der Toten und dem fortwährenden Frieden unter den Lebenden – beflügelt sein Denken, 1795, zur Zeit der Französischen Revolution. Fernab im absolutistischen Preußen formuliert er mutig, dass wohl nur Republiken (wir würden heute frei gewählte Demokratien sagen) in der Lage seien, ein verbindliches Völkerrecht zu schaffen und zu respektieren. Dergleichen galt im Feudalismus als Landesverrat.

Damit denkt Kant seiner Zeit weit voraus. So zwingend ist seine Argumentation, dass der Völkerbund, Vorläufer der Vereinten Nationen, sich bei seiner Gründung ausdrücklich auf ihn berief. In seinem philosophischen Entwurf (vermutlich würden wir ihn heute als Utopie bezeichnen) stehen so bemerkenswerte Sätze wie: "Es soll kein Friedensschluss für einen solchen gelten, der mit dem geheimen Vorbehalt des Stoffs zu einem künftigen Kriege gemacht worden."

Kant kennt sich aus, nach all den landräuberischen Kriegen der Herrscher von Gottes Gnaden ringsum. Scheinfrieden und Rosstäuscherei gelten ihm nicht als reelles Angebot.

Oder: "Stehende Heere (miles perpetuus) sollen mit der Zeit ganz aufhören." Warum? Weil schon die Existenz großer Armeen und Arsenale der anderen Seite den Unterhalt ebensolcher Kriegsmaschinerie nachgerade aufzwingt. Wettrüsten und militärisches Gleichgewicht. Besitzt Pakistan die Atombombe, muss auch Indien sie haben, und umgekehrt. Und selbstverständlich müssen beide Seiten sie erproben, wenn auch nur zu Demonstrationszwecken. A far cry from Gandhi, indeed. Doch auch Frankreich muss ja unbedingt ein Südsee-Atoll atomar zertrümmern. Als ob der Ruhm der großen Nation davon abhänge! Und natürlich muss das Schiff der dagegen protestierenden Green Peace-Leute kurzerhand versenkt werden.

Was ist bei Kant oberstes Prinzip des Völkerrechts? "Kein Staat soll sich in die Verfassung und Regierung eines andern Staats gewalttätig einmischen." Sehr brauchbar für die Vereinten Nationen, aber man sieht gleich, warum der derzeitige Präsident der USA (G. W. Bush) und seine Berater die Vereinten Nationen nicht lieben kann, solange sie sich auf Kant berufen. Dabei gehen die Gründung und sogar die Verfassung der Vereinigten Staaten auf ebendieses Denken zurück.

Sieht man nun die Tausende von Büchern und von Friedens- und Konfliktforschungskongressen in aller Welt, die sich auf Kants utopische Schrift von 1795 beziehen, so kann man auch hier feststellen: Kraus hat mit seinem Couplet nicht recht behalten, vor allem nicht mit der Diffamierung, es handle sich um Träumerei. Dagegen steht zum Beispiel die Tatsache, dass der Präsident der einzig übrig gebliebenen Weltmacht mit der schwierigen Aufgabe, das Gleichgewicht der Welt zu wahren, inzwischen ohne die UNO nicht mehr weiter kommt. Auch in Amerika sind ja die kritischen Stimmen, die Kants Sicht der Welt für wichtiger und richtiger halten, nie verstummt. Jüngstes prominentes Beispiel ist ein Buch von Gore Vidal, erschienen 2002, mit dem listigen, Kant abwandelnden Titel Ewiger Krieg für Ewigen Frieden. Hier wird auf einen Blick die Absurdität einer Politik erkennbar, die den Teufel mit Beelzebub auszutreiben sucht.

Denn wie ist es meist, auch im Irak? Beide Seiten verschaffen sich Rückendeckung bei der Religion. Saddam, ein ausgepichter Atheist und Mörder, schwadroniert vom Heiligen Krieg, und Bush, ein mit hauchdünner Legalität gewählter Präsident, von seiner christlichen Verantwortung.

Lassen wir doch endlich die Glaubensrhetorik aus dem Spiel! Auch die Kirchen als Institutionen. Das Engagement der letzten Päpste kommt reichlich spät, vor dem Hintergrund einer Geschichte voll blutiger Kreuzzüge, Inquisitionen und sogenannter Christianisierungen. Wahrlich, die Kirche hat ihre Leiden millionenfach zurückgegeben. Wenn sie jetzt zum Frieden aufruft, so beginnt sie gerade erst, sich dem eigenen Anspruch zu stellen.

Verfasser von Friedensgedichten – solche von Rang, meine ich – geben nicht vor, es besser zu wissen. Sie schreiben aus Betroffenheit. Für einige ist persönliche Verfolgung und Vertreibung der Anlass, für andere nur eine Fahrt nach Neuengamme oder eine Reise nach Sarajewo, für dritte ein Medienbericht aus dem Kosovo oder dem Irak, wo immer noch von sogenannten "Kollateralschäden" und "chirurgischen Schlägen" die Rede ist. Für Lyriker zumal gilt es, solche Un-Wörter zurückzuweisen. Sonst fangen wir an, uns an den Krieg als Normalzustand zu gewöhnen.

(aus: Zwischen allen Stühlen oder soll man in Krähwinkel stets das Maul halten? Essays aus vier Jahrzehnten Deutschland. jmb Verlag, Hannover 2015)


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Komm! Ins Offene, Freund!

Der erste gesamtdeutsche Kongreß des Verbands deutscher Schriftsteller (VS) fand vom 24. bis 26. Mai 1991 in Travemünde statt und stand unter dem Hölderlin-Motto „Komm! Ins Offene, Freund!“

Die plötzliche Öffnung der Mauer Ende 1989 erforderte von den Literaten aus West und Ost ein gründliches Umdenken. Der Versuch, unter dem Vorsitz von Rainer Kirsch einen neuen Verband auf dem Gebiet der ehemaligen DDR zu gründen, scheiterte. Ob wir es wollten oder nicht, wir mussten so schnell wie möglich einen gesamtdeutschen Kongress einberufen, um das Plattmachen sämtlicher literarischer Strukturen im "Beitrittsgebiet" zu verhindern.

An dieser kulturellen "Abwicklung" war auch der Börsenverein des deutschen Buchhandels interessiert. Erinnert sei hier an das Unterpflügen von Millionen in der DDR produzierter Bücher auf Mülldeponien rings um Leipzig – gleichgültig, ob nun Heine- oder Shakespeare- oder Marx-Engelsausgaben, ob Werke von Dissidenten wie Uwe Kolbe oder überzeugten Kommunisten wie Herman Kant. Für sie war angeblich kein Platz mehr, weil das Zentrale Auslieferungslager der DDR nunmehr für die Lagerung westlicher Druckerzeugnisse benötigt wurde. Das ging haarscharf an einer Bücherverbrennung vorbei.

Der Travemünder Kongress schuf für alle anwesenden Schriftstellerinnen und Schriftsteller eine völlig neue und ungewohnte Situation. Vorurteile, Anklagen und Abrechnungen hingen in der Luft. Es gab mehr Medienvertreter, die ein Scheitern vorhersahen, als Delegierte. Wider alle Befürchtungen rauften wir uns zusammen. Am Schluss wurde ich mit Mehrheit zum ersten gesamtdeutschen Verbandsvorsitzenden gewählt und versah dieses die Gesundheit und die Finanzen gleichermaßen ruinierende Ehrenamt bis zum Aachener Folge-Kongress 1994.

Dokumentiert sei hier meine Eröffnungsrede, nachzulesen in dem Travemünder Protokollband "Komm! Ins Offene, Freund!", Steidl 1992.

 

„Verehrte Gäste, liebe Kolleginnen und Kollegen,

nach so vielen Jahren der Teilung, durch die auch die Literatur und die Literaten in zwei Lager gespalten wurden, ist es ein singuläres Ereignis, wenn sich beide in einem gemeinsamen Verband wieder begegnen. Worauf wir vierzig Jahre lang gewartet haben, nämlich ohne Beeinträchtigung der Bewegungs- und der Meinungsfreiheit miteinander reden zu können, ist eingetreten. Die Montagsdemonstrationen mit ihrer „friedlichen Revolution“, der Runde Tisch, aber auch die gänzlich anders agierenden Politiker der Regierung der BRD haben unter Nutzung einer günstigen weltpolitischen Konstellation dieses Wunder, an das damals kaum jemand glaubte, zuwege gebracht. Wir sollten die Freude über diesen Glücksfall der Geschichte nicht zu kurz kommen lassen, wenn wir nun, als Berufsverband der deutschen Schriftsteller, gleichwohl über Defizite und Verluste öffentlich nachdenken.

Dem Herrn Bundesminister des Innern, der bereit war, den ersten gemeinsamen Schriftstellerkongreß als Schirmherr und Diskussionsredner zu eröffnen, gebührt Respekt, und zwar in mehrfacher Hinsicht. Zum einen hat er über den ‘kurzen Weg zur deutschen Einheit’ – von manchen gern als ‘der Königsweg’ apostrophiert, eine Metapher vielleicht eher aus dem Schachspiel denn aus dem Feudalismus – und damit den vermutlich einzig möglichen Weg mit eröffnet; Lothar de Maiziere sagt uns ja, die Tür habe nur einen Momentlang und auch nur einen Spalt breit offen gestanden. Zum anderen setzt Herr Dr. Schäuble auch neue Akzente als Innenminister, was er unter anderem auch mit diesem Besuch bei uns unter Beweis stellt.

Herr Minister, es ist ja ein offenes Geheimnis, dass in der Vergangenheit das Verhältnis zwischen den Intellektuellen und den ‘christlich’ sich nennenden Parteien schlecht war. Ludwig Erhard sah uns als ‘Pinscher’, also kleine Kläffer, die die Segnungen seiner in mancher Hinsicht biedermeierlich-restaurativen Politik nicht zu würdigen wußten. Bayerns gewichtiger Strauß setzte noch eins drauf und sprach von ‘Ratten und Schmeißfliegen’. Nicht von ungefähr haben wir uns daher meist in SPD-regierte Länder begeben, um unsere teils themenbezogenen, teils auch nur turbulenten Kongresse abzuhalten. Sie nun, Herr Minister, haben als erster Repräsentant der CDU einem neu gewählten VS-Vorsitzenden gratuliert, und dies in einer Situation, im September 1989, da der Schriftstellerverband nicht gerade im Zenit, sondern eher am untersten Horizont seiner bisherigen Geschichte angelangt war. Damals haben Sie Mut für die schwierige Arbeit gewünscht.

Dieses Mutes nun, denke ich, bedarf es heute mehr denn je. Mag auch ‘Abwicklung’ in einigen Bereichen ein Zauberwort sein, für die Künstler der DDR und ihre Verbände hat sie sich verheerend ausgewirkt. Der Verband deutscher Schriftsteller (VS) in der Industriegewerkschaft Medien hatte nach der staatlich verordneten Abwicklung nicht etwa des realsozialistischen alten, sondern des im März 1990 demokratische erneuerten SV nur mehr die Möglichkeit, schleunigst in den fünf neuen Ländern initiativ zu werden, wollte er nicht tatenlos zusehen, wie dort die weitaus meisten Kolleginnen und Kollegen plötzlich ohne Buchverlage, Buchvertrieb, Buchverkäufe, ebenso ohne Beschäftigung in einem aus den Fugen geratenen kulturellen Umfeld, ohne Kranken- und ohne Sozialversicherung ins Bodenlose abstürzten.

Der Beitritt nach Artikel 23 des Grundgesetzes erbrachte zudem ein äußerst ernst zu nehmendes ‘normatives Defizit’, wie der Soziologe Jürgen Habermas anmerkt, weil damit dieses Grundgesetz von den Menschen aus den fünf neuen Ländern frag- und klaglos übernommen werden musste. Das Grundgesetz in seiner jetzigen Formulierung ist keine Verfassung eines einheitlichen Deutschlands. Die Schriftstellerinnen und Schriftsteller beider Seiten, ihrerseits so rabiat zum Zusammengehen gezwungen, ohne dass Zeit zur Klärung der Voraussetzungen blieb, sind mehrheitlich der Ansicht, dass eine Verfassungsdebatte her muß, damit geistige Identität mit und in diesem Staat zumindest potentiell sich ausbilden kann. Zwar sieht der Überleitungsvertrag sozialökonomische Maßnahmen zur Minderung der durch die Abwicklung entstehenden Nöte vor. Er kann jedoch die geistig-politische Dimension des Einigungsprozesses weder ersetzen noch auch nur klären helfen. „Die kulturelle Substanz darf keinen Schaden nehmen“ – so steht es dort geschrieben. Unsere Beobachtung ist, dass sie schon vielfältig Schaden genommen hat und immer noch Schaden nimmt, denkt man nur an die Schließung von mehr als 230 Buchhandlungen von etwas mehr als 600 in der alten DDR und an die Reduzierungen im Verlagswesen. Hier wird mit einer alten Identität aufgeräumt, doch eine neue nicht geboten. So gehen, um es salopp zu sagen, zwei Geheimdienste miteinander um.

Herr Minister, wir danken ihnen noch einmal für Ihr Kommen in dieser wahrlich schwierigen und prekären Situation. Sie werden als Schirmherr dieses ersten gemeinsamen Delegiertenkongresses der deutschen Schriftsteller nicht nur ein kurzes Grußwort sprechen, sondern ein veritables Referat halten. Das ist dann schon Teil und Inhalt des Kongresses.

Zunächst aber spricht jetzt zu uns der Innenminister des Landes Schleswig-Holstein, Herr Prof. Dr. Hans-Peter Bull. Ich bitte sie, Herr Minister, aufs Podium.“


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